Ein Mann reist nach Paris. Man weiß anfangs nicht so genau, in welcher Zeit die Geschichte spielt. Anfangs vermutete ich, dass es in den zwanziger/ dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sei. Aber es ist 100 Jahre später- Anfang der dreißiger Jahre des 21. Jahrhunderts.
Irgendwo habe ich mal gehört oder gelesen, dass sich Geschichte alle 100 Jahre wiederholt. Das scheint Tukur aufzugreifen.
Er lässt seinen Protagonisten ein Fotoalbum finden, in dem er einen jungen Mann sieht, der ihm aufs Haar gleicht. Zwischendurch gibt es immer wieder Szenen, die tatsächlich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts spielen. Besonders gruselig ist, dass der Protagonist diese Szenen erlebt, als geschähen sie ihm, als wäre er der Akteur. Er ist es aber nicht. Immer wieder „erwacht“ er und fragt sich, was ihm da gerade widerfuhr/ was er schreckliches tat, was das mit ihm zu tun hat, warum es überhaupt geschieht/ ob er es wirklich getan hat.
Am Ende lässt Tukur seinen Protagonisten denken: „Das Leben ist ein Abgrund, dachte er, in dem jeder mit dem anderen zusammenhing, ein unendlich fein verzweigtes, unterirdisches Geflecht, das die Erde seit Jahrtausenden durchzog und alles Böse und Gute, alles Tote und Lebendige miteinander verband.“ Im Nachwort erklärt er, dass er sich bei der Beschreibung des Arztes in diesem Roman auf eine reale Person bezog, die tatsächlich im Südfrankreich der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts viele Flüchtlinge nicht nur betrog, sondern auch brutal ermordete.
Dieser Roman liest sich nicht immer einfach. Manchmal weiß man einfach nicht, was man davon halten soll. Vielleicht liegt es auch daran, dass man sich so hilflos fühlt, weil alles so aussichtslos erscheint? Die Welt, in der der Roman spielt, ist komplett digitalisiert. Drohnen und Handyüberwachung. Ich habe, unabhängig von diesem Buch schon manchmal gedacht, dass eine Diktatur in der heutigen Zeit mit den Menschen leichtes Spiel hätte. Jeder ist doch jederzeit auffindbar, weil vernetzt. Wer schaltet noch sein Handy aus? Wer postet nicht irgendwo irgendwas? Selbst Nachrichten, Mails, mal ganz abgesehen von Messengerdiensten wie WhatsApp, sind jederzeit einsehbar, wenn man das will und über die entsprechende Technik verfügt… ein gruseliger Gedanke, der manchmal in mir aufsteigt. Glücklicherweise leben wir nicht in einer solchen, das Leben des Einzelnen jederzeit bedrohenden Staatsform. Noch nicht… Manchmal befürchte ich jedoch, wenn ich die Nachrichten verfolge, dass sich Geschichte tatsächlich alle 100 Jahre wiederholt. Dann wünsche ich mit aller Kraft, dass dem nicht so sein möge, dass die Menschen nicht nur die Technik weiterentwickelt haben, sondern auch ihr Bewusstsein für die Katastrophe, die eine undemokratische Gesellschaft bedeutet.