Montag, 18. Juli 2022

Bernhard Schlink „Die Enkelin“

Wieder ein Buch von Bernhard Schlink. Auch hier genoss ich wieder die nachdenkliche Sprache des Autors und die genauen Beschreibungen der Protagonisten, ihres Lebensumfelds und ihrer Gefühle. 

 

Kaspar, ein Buchhändler mit eigenem Buchladen, betrauert den Tod seiner Frau Birgit. Sie hatte vor einigen Jahren begonnen zu schreiben und Kaspar erklärt, sie arbeite an einem Roman. Ihre Schreibstube wagt er zunächst nicht zu betreten, zumindest nicht zu sortieren/ durchzusehen. Er war immer zurückhaltend und verständnisvoll, vorsichtig auch, im Umgang mit seiner Frau. Sie hatte getrunken, zu viel, zu oft, litt unter Depressionen, wollte sich nicht behandeln lassen… er hoffte immer, das Schreiben könnte ihr helfen, könnte heilend wirken.

 

Dann kommt ein Brief von einem Verlag, in dem der Verlagsleiter von Gedichten und von einem Roman- Manuskript spricht. Kaspar ist verletzt. Von Gedichten weiß er nichts und dass sie einen Roman schreiben will, ja, das sagte Birgit, aber nichts Konkretes… Der Verlagsleiter scheint mehr zu wissen, als er und das tut ihm weh. 

 

Immer wieder vergehen Wochen, ehe Kaspar den nächsten Schritt macht. Irgendwann lässt er den Laptop reparieren und als das nicht wirklich gelingt, lässt er sich wenigstens alles ausdrucken, was noch wiederherstellbar ist. Und er beginnt zu lesen. 

 

Ein Roman ist es noch nicht. Eher die Lebensgeschichte von Birgit. Der Entwurf für das, was sie einmal ihren Roman nennen will. 

Kaspar liest diesen Entwurf. Birgit, die in der DDR aufwuchs und 1965 mit Kaspars Hilfe in den Westen flüchtet. 

Dass sie kurz vor der Flucht ein Kind zur Welt brachte, wusste Kaspar nicht. Er erfährt aus dem Text, dass sie das Kind damals nicht wollte, dass sie nun aber, viele Jahre später, den Vorsatz hatte, sich auf die Suche nach ihrer Tochter zu machen. Das Schreiben sollte helfen, die Angst davor, das schlechte Gewissen auch, zu verdrängen. Aber sie ging nicht auf die Suche. Das wird Kaspar während der Lektüre klar. Sollte er diesen Wunsch, den sie hatte, nun in die Tat umsetzen? Sollte er sich auf die Suche machen?

 

Wieder vergehen Wochen, bis Kaspar eine Entscheidung trifft. Er sucht und findet Birgits Tochter Svenja und deren Tochter, Sigrun. Es wäre kein Buch von Bernhard Schlink, wenn es dann einfach wäre. Wenn Kaspar alles erklären und einfach so die Rolle eines Großvaters übernehmen könnte. Wenn er eine Enkelin bekäme, obwohl sein Wunsch nach Kindern mit Birgit sich nie erfüllt hatte.

Nein, Sigrun lebt mit ihren Eltern Svenja und Björn in einer völkischen Gemeinschaft. Nach dem ersten Besuch will Kaspar sich zurückziehen. Wie soll das gehen? Zwischen seinen Werten, seiner Sicht auf die Welt und denjenigen dieser Gemeinschaft liegen Welten! Und doch lässt er sich darauf ein. Sigrun ist bereits 14 Jahre alt. Er handelt Besuchszeiten bei ihm in Berlin aus. Sie kommt zunächst im Herbst für eine Woche, dann nochmal im Frühjahr. Im Sommer verreist er mit ihr. Später gibt es einen Bruch, kein Kontakt mehr für zwei Jahre.

 

Was mich faszinierte, war die Haltung von Kaspar. Wie er mit seiner Enkelin umgeht. Wie es ihm gelingt, immer die Balance zu halten. Ihre Ansichten anzuhören, seine so zu formulieren, dass sie das Mädchen nicht bedrängen und doch etwas in ihr bewirken. 

Ich habe mich gefragt, ob ihm das so überwiegend ruhig und vorsichtig gelingt, weil er nicht der leibliche Großvater ist oder weil er einfach eine solche Persönlichkeit hat. Oder liegt es daran, dass er sie mit Abstand betrachten kann, auch wenn sie ihm nach und nach ans Herz wächst? Er ist nicht verantwortlich. Nicht er hat sie vierzehn Jahre lang im Sinne der völkischen Gemeinschaften erzogen. Er kann sich ihre Ansichten anhören und seine dagegenstellen. Er sorgt sich um sie, aber als der Kontakt abbricht, akzeptiert er das. Und als sie wieder auftaucht, Schwierigkeiten hat, hilft er ihr, akzeptiert letztlich auch jetzt die Entscheidungen, die nun sie trifft, wo zuvor die Eltern entschieden.

 

Wieder spricht Bernhard Schlink in seinem Buch zum einen den Umgang miteinander, aber auch brisante politische Themen an und gibt nebenbei einen Einblick in die (seine?) Liebe zur Musik und zur Literatur. 

 

 

 

 

 

Samstag, 16. Juli 2022

Jean- Luc Bannalec „Bretonische Nächte- Kommissar Dupins elfter Fall“

Als ich 2019 eine Rundreise unternahm, die mich über Amsterdam, Brügge, Abbeville, Guingamp, Port Manec’h und Luxemburg zurück nach Berlin führte, erhielt ich eine Buchempfehlung von einem ehemaligen Kollegen. Ich hielt mich gerade in Pont- Aven im Süden der Bretagne auf und hatte Fotos von dieser zauberhaften Stadt gepostet, da schrieb er, ob ich wüsste, dass der erste Fall von Kommissar Dupin in diesem Ort spiele. Ich wusste es nicht. Ich sah Krimis im Fernsehen, aber sie zu lesen war bisher nicht so sehr meins.

Zurück in Berlin besorgte ich mir auf diese Empfehlung hin den ersten Fall dieser Buchreihe von Jean- Luc- Bannalec „Bretonische Verhältnisse“… und ich verlängerte damit meinen Urlaub in der Bretagne, deren Gegend, Menschen, Essen… ich so sehr genossen hatte, indem ich alle Bände, die es bis dahin gab, nach und nach las.

 

Jean- Luc Bannalec schildert spannende Fälle. Durch die genaue Beschreibung der Natur, der Umgebung und der Menschen, habe ich immer das Gefühl, dabei zu sein, ebenfalls in diesem Wind zu stehen, zu fühlen, wie die Sonne auf der Haut brennt, wie das Fleur de Sel, die Austern und andere Köstlichkeiten zart auf der Zunge schmelzen, der Weißwein die Kehle hinunterrinnt oder einer der zahlreichen Espressi des Kommissars auch den eigenen Kopf erweckt… 

 

Jean- Luc Bannalec hat Charaktere entwickelt, auf die ich mich in jedem Band neu freue. Kommissar Dupin, der ewig unruhige, geniale Kopf, der Unmengen Espresso zu sich nimmt, um klar denken zu können, seine liebste Claire, die als Ärztin in Quimper arbeitet. Seine Mitarbeiterin Nolwenn und Inspektor Riwal, die als gebürtige Bretonen über ein unermessliches Wissen über die Mystik und Geschichte der Bretagne verfügen und dieses Wissen an jeder Stelle jedes Falls einbringen. Inspektor Kadeg, der in seiner Pedanterie doch liebevoll dargestellt ist und ebenfalls regelmäßig über bretonische Historie und Mystik referiert. Der Wirt des „Amiral“ in Concarneau, Dupins Lieblingsrestaurant in seiner bretonischen Lieblingsstadt, der so herrliche Gerichte zubereitet, dass man durch die Beschreibung, die der Autor zelebriert, Lust bekommt, selbst an den Herd zu gehen, ganz abgesehen davon, dass einem das Wasser im Munde zusammenläuft und man meint, den Geschmack der Speisen wahrzunehmen.

 

Ich hatte mir für diesen Urlaub bereits fünf Bücher gekauft und eingepackt, aber als ich beim Schlendern durch Flensburg den elften Fall des Kommissars Dupin entdeckte, musste ich ihn auch noch mitnehmen. Ich las ihn an einem Tag durch. Es war wieder so spannend und alle Sinne anregend, dass ich ihn nicht weglegen konnte, bevor nicht klar war, wie alles zusammenhing und am Ende Dupin mit seiner Claire wieder auf dem Balkon eines Hotels mit spektakulärem Ausblick aufs Meer vorzüglich speiste.

 

Die Fälle will ich hier nicht beschreiben. Viele Bände sind auch bereits verfilmt. Aber in den Filmen, von denen ich einige auch bereits sah, fehlt für mich die Sinnlichkeit, die beim Lesen der Bücher entsteht. Das Essen, die Luft und ganz nebenbei so viel Geschichte dieser französischen Region- das geht in den filmischen Umsetzungen verloren. Wer also Lust auf spannende Kriminalfälle gepaart mit einer alle Sinne anregenden Reise in die Bretagne hat, sollte die Bücher von Jean- Luc Bannalec unbedingt auf seine Leseliste setzen... und sie dann auch lesen, vor allem, wenn er/ sie mal Urlaub braucht und gerade keine lange Reise in der Realität unternehmen kann ;)

Susanne Abel „Stay away from Gretchen” und „Was ich nie gesagt habe- Gretchens Schicksalsfamilie“

Heute schreibe ich wieder über zwei Bücher. Wieder wusste ich nicht, als ich 2021 das erste Buch las, dass es eine Fortsetzung geben würde, auch wenn diese am Ende irgendwie angelegt war…

Jedenfalls sind beide Bücher sehr lesenswert und entsprechen meinem Interesse an der Verbindung von Gegenwart und Geschichte in einem Roman.

 

In “Stay away from Gretchen“ geht es um Tom Monderath, einen erfolgreichen Fernsehmoderator, einigermaßen arrogant und nicht besonders sympathisch, der sich plötzlich mit der Alzheimer- Erkrankung seiner Mutter konfrontiert sieht. Durch diese Erkrankung macht sie Äußerungen, die ihn aufhorchen lassen und nach und nach kommt er zu der Erkenntnis, dass er eine Halbschwester hat, von der seine Mutter niemals sprach. In Rückblenden wird von der Flucht der Mutter am Ende des zweiten Weltkrieges erzählt, von ihrer Verbundenheit mit dem Großvater, mit dem sie floh, von der Zeit der Not, des Schwarzmarktes, des immer gerade- so- Überlebens. Und von Gretchens erster und einziger großer Liebe zu einem amerikanischen GI. Susanne Abel erzählt so, dass ich immer weiterlesen wollte, ich lachte, fieberte und litt mit den Protagonisten und mir wurde wieder bewusst, in welcher unglaublichen Freiheit wir leben. Welche Entscheidungen wir treffen dürfen, die damals jungen Frauen nicht möglich waren. 

Im Laufe der Recherche nach seiner Halbschwester, verändert sich Tom Monderath. Er wird sympathischer und man versteht immer mehr, wie sehr seine Arroganz auch ein Schutzpanzer war, den er sich zulegte, um das Leid seiner Mutter, die an Depressionen litt, nicht zu sehr spüren zu müssen. Gegen Ende des Romans gibt er über eine Internetseite eine DNA- Analyse in Auftrag, um feststellen zu können, ob die Person, die er fand, tatsächlich seine Halbschwester ist. Im Ergebnis erhält er zwei weitere Übereinstimmungen zu anderen, männlichen, Personen, die er aber zunächst ignoriert.

 

Und damit beginnt dann das zweite Buch. Einer der Männer, Henk aus den Niederlanden, mit denen es laut DNA- Analyse Übereinstimmungen gab, hat sich bei Tom gemeldet und möchte ihn gern treffen. In diesem Fall besteht die Übereinstimmung mit dem Vater von Tom. Im Laufe dieses zweiten Romans lernen die beiden sich kennen und staunen über die Gemeinsamkeiten, die sie haben, obwohl sie „nur“ die Gene gemeinsam haben. Sie haben nichts voneinander gewusst, sind sich zuvor nie begegnet, hatten keinerlei Umgang mit Personen, die sie beide kannten und doch verhalten sich Henk und Tom in manchen Situationen genauso wie der andere. 

In diesem zweiten Roman wird in Rückblenden das Leben des Vaters von Tom erzählt. Auch hier wird das Drama des zweiten Weltkrieges und des verbrecherischen Systems, das ihn angezettelt hat, sehr deutlich beschrieben. Wie es in jede Familie hineinwirkte, welche tiefen Verletzungen es hinterließ und welche Auswirkungen das Schweigen über die Ursachen der immer noch sichtbaren Narben auf die nachfolgenden Generationen hat…

Es geht aber auch um die Anfänge der künstlichen Befruchtung und um das Gegenteil- die Verhütung von Schwangerschaften. Da die Forschung dazu in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte besonders vorangetrieben und unmenschliche Methoden angewandt wurden, lassen die Rückblenden, in denen das Leben des Vaters von Tom erzählt wird, Einblicke in jene Zeit zu, an die sich so manch einer nach wie vor nicht erinnern will. 

Susanne Abel stellt diesem Roman wohl darum auch ein Zitat voran:

 

„Es gibt keine Geheimnisse, die die Zeit nicht irgendwann offenbart.“

(Jean Racine, Britannicus, 1669)

 

Und sie schreibt im Nachwort: „Über das Wesentliche nicht reden zu können aus Angst, das Gesagte würde das brüchige Fundament ins Wanken bringen, zieht sich durch beide Zeitebenen meines Romans. Die zerstörerische Sprengkraft des Schweigens ist mir bestens vertraut. Doch ich weiß: Die Wahrheit bahnt sich ihren Weg. So oder so!“

 

Es gibt wohl kaum eine Familie, in der es nicht irgendein Geheimnis gibt. Sicher haben nicht alle diese Geheimnisse diese Dimension, wie in den beiden Gretchen- Romanen von Susanne Abel, aber sie wirken… kurioserweise wirkt besonders das, was verschwiegen wird. Es ist mir ein Rätsel, wie das funktioniert, aber es gibt ja schon einige Forschung dazu… Ganz offensichtlich wird doch viel mehr in den Genen weitergegeben, auf das dann die Umwelt nur bedingt Einfluss hat… aber das wäre ein Thema für einen eigenen Text, den ich vielleicht irgendwann schreibe, wenn ich mehr dazu recherchiert habe… 

 

 

Sonntag, 10. Juli 2022

Neil Alexander „Die geheimnisvollen Briefe der Margaret Small

Das erste Urlaubsbuch in diesem Jahr und schon ausgelesen! Na, gut, ich hatte bereits vor ein paar Tagen begonnen, darin zu lesen, aber gestern nach meiner Ankunft in der blauen Pause, die mein Feriendomizil für die kommenden drei Wochen sein wird, und heute den ganzen Tag, tat ich nicht viel mehr, als zu lesen  Welch ein Genuss! Nun will ich aber auch endlich wieder beginnen, über die Bücher zu schreiben, die ich lese, weshalb ich gleich damit anfange.

Margaret wird 1947, im Alter von sieben Jahren, in ein Kinderheim gebracht, das eher eine Klinik ist. Dort bleibt sie, bis sich irgendwann die Zeiten ändern und Menschen wie ihr endlich auch ein eigenständiges Leben zugetraut und zugestanden wird. Da ist sie dann schon vierzig Jahre alt. Heute würde man sagen, Margaret hat Förderbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung. Damals galt sie als behindert und man meinte, der Gesellschaft solche Menschen, selbst deren Anblick, nicht zumuten zu können. Sie wurden weggesperrt und dort, wo sie waren, nicht freundlich, eher häufig menschenunwürdig, behandelt. Ihr Leben galt nichts und wenn eine/r von ihnen starb, war es auch nicht schlimm. So grausam das klingt, war es leider.

 

Neil Alexander erzählt die Geschichte der fiktiven Margaret Small stellvertretend für die vielen Menschen, die auf die eben beschriebene Weise für die Gesellschaft unsichtbar gemacht wurden.

Die Kapitel wechseln zwischen Margarets Alltag als über Siebzigjährige und ihrer Zeit als Kind und junge Erwachsene in der Klinik. Die Tatsache, dass der Autor die Protagonistin aus der Ich- Perspektive erzählen lässt, bringt sie dem Leser besonders nahe… und verdeutlicht, wie arrogant die Haltung derer ist, die meinen, Menschen, die irgendwelche Beeinträchtigungen haben, veralbern, beschimpfen, übersehen zu dürfen oder mit ihnen sprechen zu müssen, als würden diese nichts verstehen. 

Ich hatte sofort einige Menschen aus meinem beruflichen Umfeld im Kopf, denen ich dieses Buch empfehlen könnte. Menschen, die eben diese arrogante Haltung haben oder zumindest von Zeit zu Zeit Sprüche von sich geben, die diese Haltung zum Ausdruck bringen.

 

Auch wenn es heute inklusive Schulen gibt, wenn Kinder, denen man es früher nicht zutraute, heute lesen und schreiben lernen, ist das Thema des Buches hochaktuell. Darüber hinaus liest es sich sehr gut und ich empfehle es allen, die gern Geschichten lesen, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden und dabei Bezüge zu tatsächlichen Geschehnissen/ gesellschaftlichen Verhältnissen herstellen.