Wieder ein Buch von Bernhard Schlink. Auch hier genoss ich wieder die nachdenkliche Sprache des Autors und die genauen Beschreibungen der Protagonisten, ihres Lebensumfelds und ihrer Gefühle.
Kaspar, ein Buchhändler mit eigenem Buchladen, betrauert den Tod seiner Frau Birgit. Sie hatte vor einigen Jahren begonnen zu schreiben und Kaspar erklärt, sie arbeite an einem Roman. Ihre Schreibstube wagt er zunächst nicht zu betreten, zumindest nicht zu sortieren/ durchzusehen. Er war immer zurückhaltend und verständnisvoll, vorsichtig auch, im Umgang mit seiner Frau. Sie hatte getrunken, zu viel, zu oft, litt unter Depressionen, wollte sich nicht behandeln lassen… er hoffte immer, das Schreiben könnte ihr helfen, könnte heilend wirken.
Dann kommt ein Brief von einem Verlag, in dem der Verlagsleiter von Gedichten und von einem Roman- Manuskript spricht. Kaspar ist verletzt. Von Gedichten weiß er nichts und dass sie einen Roman schreiben will, ja, das sagte Birgit, aber nichts Konkretes… Der Verlagsleiter scheint mehr zu wissen, als er und das tut ihm weh.
Immer wieder vergehen Wochen, ehe Kaspar den nächsten Schritt macht. Irgendwann lässt er den Laptop reparieren und als das nicht wirklich gelingt, lässt er sich wenigstens alles ausdrucken, was noch wiederherstellbar ist. Und er beginnt zu lesen.
Ein Roman ist es noch nicht. Eher die Lebensgeschichte von Birgit. Der Entwurf für das, was sie einmal ihren Roman nennen will.
Kaspar liest diesen Entwurf. Birgit, die in der DDR aufwuchs und 1965 mit Kaspars Hilfe in den Westen flüchtet.
Dass sie kurz vor der Flucht ein Kind zur Welt brachte, wusste Kaspar nicht. Er erfährt aus dem Text, dass sie das Kind damals nicht wollte, dass sie nun aber, viele Jahre später, den Vorsatz hatte, sich auf die Suche nach ihrer Tochter zu machen. Das Schreiben sollte helfen, die Angst davor, das schlechte Gewissen auch, zu verdrängen. Aber sie ging nicht auf die Suche. Das wird Kaspar während der Lektüre klar. Sollte er diesen Wunsch, den sie hatte, nun in die Tat umsetzen? Sollte er sich auf die Suche machen?
Wieder vergehen Wochen, bis Kaspar eine Entscheidung trifft. Er sucht und findet Birgits Tochter Svenja und deren Tochter, Sigrun. Es wäre kein Buch von Bernhard Schlink, wenn es dann einfach wäre. Wenn Kaspar alles erklären und einfach so die Rolle eines Großvaters übernehmen könnte. Wenn er eine Enkelin bekäme, obwohl sein Wunsch nach Kindern mit Birgit sich nie erfüllt hatte.
Nein, Sigrun lebt mit ihren Eltern Svenja und Björn in einer völkischen Gemeinschaft. Nach dem ersten Besuch will Kaspar sich zurückziehen. Wie soll das gehen? Zwischen seinen Werten, seiner Sicht auf die Welt und denjenigen dieser Gemeinschaft liegen Welten! Und doch lässt er sich darauf ein. Sigrun ist bereits 14 Jahre alt. Er handelt Besuchszeiten bei ihm in Berlin aus. Sie kommt zunächst im Herbst für eine Woche, dann nochmal im Frühjahr. Im Sommer verreist er mit ihr. Später gibt es einen Bruch, kein Kontakt mehr für zwei Jahre.
Was mich faszinierte, war die Haltung von Kaspar. Wie er mit seiner Enkelin umgeht. Wie es ihm gelingt, immer die Balance zu halten. Ihre Ansichten anzuhören, seine so zu formulieren, dass sie das Mädchen nicht bedrängen und doch etwas in ihr bewirken.
Ich habe mich gefragt, ob ihm das so überwiegend ruhig und vorsichtig gelingt, weil er nicht der leibliche Großvater ist oder weil er einfach eine solche Persönlichkeit hat. Oder liegt es daran, dass er sie mit Abstand betrachten kann, auch wenn sie ihm nach und nach ans Herz wächst? Er ist nicht verantwortlich. Nicht er hat sie vierzehn Jahre lang im Sinne der völkischen Gemeinschaften erzogen. Er kann sich ihre Ansichten anhören und seine dagegenstellen. Er sorgt sich um sie, aber als der Kontakt abbricht, akzeptiert er das. Und als sie wieder auftaucht, Schwierigkeiten hat, hilft er ihr, akzeptiert letztlich auch jetzt die Entscheidungen, die nun sie trifft, wo zuvor die Eltern entschieden.
Wieder spricht Bernhard Schlink in seinem Buch zum einen den Umgang miteinander, aber auch brisante politische Themen an und gibt nebenbei einen Einblick in die (seine?) Liebe zur Musik und zur Literatur.