Freitag, 24. Juli 2020

Stefanie Gregg „Nebelkinder“

Eine Geschichte über Flucht und deren Folgen. 

Eine Mutter flieht mit zwei Töchtern (Anastasia und Helene), ihrer Schwester und deren Sohn aus Breslau, dem heutigen Wrozlaw. Es gelingt ihnen in den letzten Zug aufgenommen zu werden und später werden ihnen sogar Sitzplätze organisiert. Damit dies alles möglich ist, müssen die beiden Mütter den Soldaten, die den Zug begleiten, „zur Verfügung stehen“. Die Kinder bekommen das zwar mit, wissen aber nicht wirklich, was geschieht. 

Es ist Winter und eisig kalt. Es gibt so gut wie nichts zu essen, man kann sich nicht waschen und bekommt nur selten etwas zu trinken. So geht das tagelang. Niemand weiß, ob der Zug es schafft, wie lange sie unterwegs sein werden, ob sie diese Fahrt überleben.

Die zweite Erzählebene spielt in der heutigen Zeit. Lilith, die Tochter von Anastasia steht vor einer Entscheidung, die ihr Leben stark verändern kann. Da sie unentschlossen ist, lädt Anastasia sie zu einer Reise nach Wrozlaw ein… und sie beginnt zu erzählen, was damals geschah. 

Lilith erfährt Dinge, über die noch nie geredet wurde und beginnt langsam zu verstehen, was sie nie begreifen konnte. Der Titel des Buches bezieht sich genau auf dieses Gefühl: dieses Stochern im Nebel. Man spürt, dass da etwas ist, aber selbst auf Fragen erhält man keine Antwort oder nur Erklärungen, die den Nebel nicht lichten, weil sie ausweichend gegeben werden…

 

Diese Geschichte macht in Romanform deutlich, was Sabine Bode in ihren Büchern „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ und „Kriegsenkel“ herausgearbeitet hat: all die Schrecken des Krieges und der Flucht verlieren sich nicht, indem man einfach nicht darüber redet. Im Gegenteil: die verdrängten schrecklichen Erlebnisse verwandeln sich in Ängste und Verhaltensweisen, die dazu beitragen, dass die Schrecken von Generation zu Generation weiterwirken. 

Ich denke, dass dies für alle Geheimnisse gilt, die es in Familien gibt. Jeder Schrecken, der nicht verarbeitet wird, gärt weiter, prägt das Verhalten und wird so ungewollt auf die Kinder und Kindeskinder übertragen. Das Schlimme daran ist, dass die folgenden Generationen sich manche Gefühle oder Verhaltensweisen nicht erklären können, denn sie selbst hatten diese Erlebnisse ja nicht. Wenn nicht, wie Anastasia in diesem Buch, diejenigen, die diese Erlebnisse hatten, sich öffnen und darüber sprechen, werden die Kinder und Kindeskinder immer weiter „im Nebel stochern“.

 

Ich fand es ein wenig schade, dass manche Personen aus der Geschichte später „verschwanden“. So erfährt man nicht, was aus Anastasias Schwester Helene wurde, was aus Wolfi, dem Cousin der beiden und seiner Mutter Selma, die ja auch die Flucht erlebten. Aber vielleicht gibt es irgendwann noch eine Fortsetzung zu diesem Roman?

 

Lena Johannson „Die Malerin des Nordlichts“


Ein Roman über eine starke Frau, Signe Munch Siebke, die heute kaum bekannt ist, da ihre Bilder während der Besatzung Norwegens durch die deutschen Truppen fast vollständig verloren gingen.

Natürlich erfährt man auch etwas über Edvard Munch, den berühmten Onkel Signes. Sie hat eine nahe Beziehung zu ihm, wehrt sich aber stets dagegen, auf die Verwandtschaft mit ihm reduziert zu werden. Sie sucht ihren eigenen Weg in der Malerei und findet ihn auch- so jedenfalls wird es im Buch beschrieben.

Signe heiratet, weil ihr Vater das von ihr erwartet. Diese Ehe ist für sie jedoch wie ein Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nimmt. Sie verspürt den Drang zu malen, was ihr Mann aber nicht goutiert. Also entschließt sie sich, die Scheidung einzureichen, was in der damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich ist. Signe steht danach für sich, studiert Kunst und bestreitet ihren Unterhalt durch Schreibarbeiten sowie das Engagement für den Verein junger Künstler. Durch ein Stipendium kann sie Erfahrungen in Kopenhagen sammeln.

Mit ihrem zweiten Mann Einar Siebke engagiert sie sich im Widerstand. 

Der Leser erfährt viel über das Malen allgemein, über Farben und Atmosphäre, Technik und Licht, aber auch über die Künstler- Bohème in Kristiania, das erst ab 1924 wieder Oslo genannt wird sowie über den Widerstand gegen die deutsche Besatzung.

Aus meiner Sicht ein lesenswertes Buch.

Armando Lucas Correa „Die verlorene Tochter der Sternbergs“


 

Familie Sternberg lebt in Berlin. Der Vater ist Kardiologe und die Mutter betreibt den Buchladen, den sie von ihrem Vater übernommen hat, den „Büchergarten“ in Berlin Charlottenburg. Die beiden lieben sich und ihre beiden Töchter Viera und Lina innig. Aber sie sind Juden und das ist mit Machtantritt der Nazis kein gutes Vorzeichen für ein glückliches Leben.

Armando Lucas Correa beschreibt in diesem Buch die Leben der Mitglieder dieser Familie. Der Vater stirbt schnell, nachdem er von den Nazis abgeholt wird. Es gelingt ihm jedoch, zuvor noch die Flucht seiner Töchter vorzubereiten. Beide sollen am 13. Mai 1939 mit dem Passagierschiff „St. Louis“ nach Kuba zum Bruder seiner Frau reisen. Wenn er selbst und seine Frau schon nicht gerettet werden konnten, so sollten es wenigstens die Kinder schaffen. Der Vater eines ehemaligen Patienten, ein Nazi zwar, aber doch dankbar gegenüber Dr. Sternberg, der das schwache Herz seines Sohnes gestärkt hatte, war aktiv geworden und hatte alles für die Flucht der Töchter der Sternbergs organisiert.

Amanda, die Mutter von Viera und Lina, kann keine Dankbarkeit empfinden. Wie auch? Ihr Leben ist zerstört, der Buchladen leer, die Bücher verbrannt, ihr geliebter Mann tot und nun soll sie sich auch noch von ihren Töchtern trennen. Sie entschließt sich, am Pier erst, nur die ältere der beiden auf das Schiff und nach Kuba zu ihrem Bruder zu schicken. Mit der jüngeren flieht sie weiter nach Frankreich in ein Dorf in der Nähe von Limoges zu der Frau eines Freundes ihres Vaters, Claire.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“ und „Die langen Abende“

Bei einem meiner Streifzüge durch die Buchhandlung fand ich den Roman „Die langen Abende“ von Elizabeth Strout. Auf dem Buchrücken stand, dass es in diesem Buch ein Wiedersehen mit Olive Kitteridge gäbe. Das sagte mir nichts, obwohl ich doch schon einige Bücher der Autorin gelesen hatte. Also beschloss ich, zunächst das Buch „Mit Blick aufs Meer“ zu lesen, in dem jene Olive die Heldin war und für das Elizabeth Strout 2009 den Pulitzerpreis erhielt.

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass ein Buch gut ist, nur weil es einen Preis erhielt. Aber da mir die Schreibweise der Autorin gefiel und ich eine Reihe gern von vorn beginne, las ich also zuerst „Mit Blick aufs Meer“ und dann die Fortsetzung „Die langen Abende“.

Elizabeth Strout beschreibt das Leben in einem kleinen fiktiven Ort an der Küste von Maine. Sie beobachtet genau und wertet nie. Das führt dazu, dass sich der Leser so fühlt, als wäre er selbst dort und würde sehen, was vor sich geht. Irgendwann stellt man fest: Das ist, was man auch in seiner eigenen unmittelbaren Umgebung beobachten kann. Angeregt durch die Lektüre, schaut man genauer hin, sieht plötzlich bei sich selbst oder den Nachbarn Dinge, die sonst eher vorbeirauschen, nicht auffallen oder verdrängt werden.

Die einzelnen Kapitel (in beiden Büchern) scheinen manchmal ohne Zusammenhang zu sein, da immer wieder von anderen „Häusern“ (im Sinne von Familien/ Schicksalen) erzählt wird. Häufig dachte ich an den Spruch einer meiner Großmütter: „Unter jedem Dach ein Ach!“ Nein, lustig ist das selten. Auch nicht so, dass man es erstrebenswert fände. Und doch ist es eben das Leben mit allen seinen Höhen und Tiefen, die es für jeden Menschen hat. 

Die Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen Leben stellt immer wieder Olive Kitteridge dar. Sie taucht mal intensiver, mal nur kurz in jeder der Geschichten auf. Auf diese Weise wird im Grunde das Leben der Olive Kitteridge erzählt. Man begleitet sie von der Zeit als junge Mutter über die mittleren Jahre (im ersten Buch) bis ins hohe Alter (im zweiten Buch).

Freitag, 17. Juli 2020

Emily Gunnis „Das Haus der Verlassenen“

Dieses Buch habe ich innerhalb von zwei Tagen durchgelesen! Gut, dass ich Urlaub habe und mir darum diese Zeit nehmen konnte ;)

Es geht um Mutter- Kind- Heime in England in den 50er/ 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Inzwischen weiß man viel über die „Magdalenen- Heime“ in Irland, über die am Ende der 1990er/ Anfang der 2000er Jahre immer mehr veröffentlicht wurde. Dass es solche Heime auch in anderen Ländern so oder ähnlich gab, ist inzwischen ebenfalls bekannt. 

Emily Gunnis schreibt in ihrem Nachwort, dass das im Roman benannte Heim eine Fiktion ist, dass es aber auch in England solche Heime gab und sie sich mit ihren Beschreibungen auf die Zustände in verschiedenen Einrichtungen auf dem Gebiet Großbritanniens bezieht.

Der Roman beginnt mit dem Brief einer jungen Frau an ein kleines Mädchen, in dem sie diesem erklärt, wie es aus dem schrecklichen Heim fliehen kann, während die junge Frau durch ihren Freitod für Ablenkung sorgen wird.

Beide, die junge Frau und das kleine Mädchen, sind gefangen in diesem, von Nonnen geführten, Heim. Das Mädchen wurde dort geboren und irgendwann von den Adoptiveltern, an die man es vermittelt hatte, zurückgebracht. Es fristet sein Dasein unter unmenschlichen Bedingungen auf dem Dachboden des Hauses. Die junge Frau brachte ihr uneheliches Kind in diesem Heim zur Welt und wurde, wie alle „gefallenen“ Mädchen, die in diese Einrichtung kommen, gezwungen, es zur Adoption freizugeben. Beide müssen von morgens bis abends schwer in der Wäscherei schuften, bekommen nur wenig zu essen, sind niemals ohne Aufsicht, dürfen nie aus dem Haus, nicht einmal in den Garten- kurz: es sind Zustände, von denen man denkt, so etwas hätte es vielleicht im Mittelalter gegeben. Wie inzwischen bekannt ist, wurden diese Heime aber bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts- für die Verantwortlichen sehr ertragreich- betrieben.

Donnerstag, 16. Juli 2020

Éric Vuillard „Die Tagesordnung“


Ein schmales Büchlein mit gewichtigem Inhalt. Ausgehend vom Treffen vierundzwanzig hochrangiger Vertreter der Industrie mit Adolf Hitler am 20. Februar 1933 skizziert Vuillard die Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Dabei betrachtet er vor allem das, was hinter den Kulissen geschah, das, was nicht unbedingt zum allgemeinen Wissen gehört und vergleicht am Ende die Bereitschaft der Industriellen, den Wahlkampf von Adolf Hitler zu finanzieren mit der, lange nach dem Krieg die vergleichsweise wenigen noch lebenden Zwangsarbeiter zu entschädigen, die unter unmenschlichen Bedingungen maßgeblich zum noch heute existierenden Reichtum der Firmen beitrugen.

Dieses Buch liest sich nicht mal eben so weg. Es setzt einiges Wissen über diese düstere Zeit voraus und ist in einer Sprache geschrieben, die Konzentration erfordert. Überliest man einen Satz, will man querlesen, geht der Sinn des Ganzen verloren und man blättert zurück, liest noch einmal.

Ein Zitat als Beispiel: „Was an diesem Krieg verblüfft, ist der unerhörter Erfolg der Frechheit, der uns eines lehren sollte: Die Welt gehorcht dem Bluff. Selbst die seriöseste, steifste Welt, selbst die alte Ordnung, die sich niemals dem Anspruch der Gerechtigkeit beugt oder vor dem aufständischen Volk einknickt: Sie tut es vor dem Bluff.“

Ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich für Geschichte interessieren und Freude an tiefgründiger Literatur, gedanklichen Winkelzügen sowie stellenweise sarkastischem Tonfall haben.