Mittwoch, 30. Dezember 2020

David Grossman „Was Nina wusste“

„Vera ist, wie jeden Morgen, schon früh aus dem Haus gegangen, ihre ‚Alten‘ besuchen, die übrigens alle ein paar Jährchen jünger sind als sie. Die wird sie mit ihrer aufmüpfigen Lebensfreude betäuben… Danach wird sie mit zusammengepressten Lippen und energischen Armbewegungen, die enge rosa Badekappe auf dem Kopf, dreißigmal um das Schwimmbecken herumlaufen und dann auf ihrem Seniorenscooter zum Kibbuzfriedhof düsen- das Gesicht dicht an der Windschutzscheibe, den Po in der Luft, eine Lebensgefahr für jeden, der um diese Uhrzeit im Kibbuz unterwegs ist.“

 

Dieses Zitat macht den Ton deutlich, in dem dieses Buch geschrieben ist. Immer wieder musste ich lächeln. Dabei geht es auch um Krieg, Folter, Vertreibung, Tod von nahen Menschen und darum, was das Schweigen mit den Menschen macht, die davon betroffen sind. Diejenigen, die schweigen und diejenigen, denen das Schweigen begegnet. In erster Linie erzählt uns David Grossman aber die Geschichte von Vera, Nina, Rafi und Gili. Dieses Buch zu lesen und an vielen Stelle zu lächeln, an manchen zu weinen ist, wie es eben ist, das Leben. Es gibt Tragödien, aber es gibt auch Glücksmomente und manchmal ist beides nah beieinander. Und manchmal gelingt es, die Tragödien zu ertragen/ ertragbar zu machen, in ein anderes Licht zu rücken… wie auch immer… wenn man einem Menschen wie Vera begegnet, der pragmatisch, aber mit einem großen Herzen handelt.

 

Vera hat gerade ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert, als ihre Tochter Nina wieder auftaucht. Nina, die Mutter ihrer Enkelin Gili. So beginnt der Roman. David Grossman lässt Gili, die Enkeltochter, die bei ihrem Vater Rafi aufwuchs, weil ihre Mutter irgendwann verschwand, die Geschichte erzählen. Rafi drehte Filme, Gili trat in seine Fußstapfen. Die beiden beschließen, mit Nina und Vera in deren Geburtsland zu fahren und dabei Vera ihre Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Für Nina. Für Gili. Und alles aufgenommen mit einer alten Sony- Handkamera. 

Dienstag, 29. Dezember 2020

Daniel Speck „Bella Germania“

Ich las von diesem Autor bereits das Buch „Piccola Sicilia“, über das ich hier noch schreiben werde.

Nun fiel mir dieses Buch in die Hände und ich las es mit der gleichen Begeisterung, wie jenes.

Eine große Liebe, Familiengeheimnisse, Familientraditionen, Ansprüche ans Leben- erfüllte und unerfüllte, das sind die wesentlichen Themen, die in diesem Buch zu einer spannenden und gleichzeitig sehr berührenden Geschichte verwoben werden. Gleichzeitig verfolgt man wie nebenbei auch die politische Entwicklung, da ja keiner der Protagonisten im luftleeren Raum lebt, sondern als mehr oder weniger aktiver Teil dieser Entwicklungen: der Lizenzvertag zwischen BMW und Rivolta über die Isetta, der mit Italien ausgehandelte „Gastarbeiter- Vertrag“, wie diese Menschen dann hier in Deutschland ankamen oder eben auch nach Jahrzehnten noch nicht dazugehörten, die RAF, die Olympiade 1972 mit ihren schrecklichen Ereignissen… 

Giulietta ist jung, Sekretärin in der Autofirma „Iso Rivolta“ in Italien und hatte während ihrer Ausbildung ein paar Deutsch- Sprachkurse besucht. Als der junge Ingenieur Vincent aus Deutschland nach Italien kommt, um sich im Auftrag seines Arbeitgebers BMW die „Isetta“ anzusehen und einzuschätzen, ob dieses Auto in Deutschland verkauft werden könnte, wird Giulietta als Übersetzerin zu den Gesprächen gebeten. So lernen die beiden sich kennen.

Natürlich ist Giulietta, ursprünglich von einer Insel südlich von Sizilien kommend, bereits einem Mann „versprochen“, weil das eben auf den Inseln so üblich ist. Aber Giulietta hat Träume, die sie in dieser Ehe vermutlich niemals wird realisieren können.

Vincent hat während des Krieges alles verloren. Keine Familie stützt ihn, alles hat er durch glückliche Umstände und eigene ehrgeizige Arbeit erreicht. In Deutschland ist zudem fünf Jahre nach Kriegsende alles im Aufbruch, in der Veränderung. 

Die beiden verlieben sich ineinander und beginnen eine heimliche Beziehung. Als Vincent zurück nach Deutschland fährt, will Giulietta mit ihm gehen. Sie will den Sprung wagen, will leben, lachen und sich ihren Traum vom Verkauf ihrer eigenen Mode- Entwürfe verwirklichen.

Aber es kommt anders. Die Traditionen, die Ehrfurcht vor der Mamma, die nun einmal etwas anderes bestimmt hat, halten Giulietta zurück. Sie heiratet den, dem sie versprochen ist, schenkt einem Sohn das Leben und ist fortan Mutter und Hausfrau. 

So weit der Anfang der Geschichte, auch wenn das Buch anders beginnt.

Samstag, 12. September 2020

Ulrich Tukur „Der Ursprung der Welt“

Ein Mann reist nach Paris. Man weiß anfangs nicht so genau, in welcher Zeit die Geschichte spielt. Anfangs vermutete ich, dass es in den zwanziger/ dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sei. Aber es ist 100 Jahre später- Anfang der dreißiger Jahre des 21. Jahrhunderts.

Irgendwo habe ich mal gehört oder gelesen, dass sich Geschichte alle 100 Jahre wiederholt. Das scheint Tukur aufzugreifen.

Er lässt seinen Protagonisten ein Fotoalbum finden, in dem er einen jungen Mann sieht, der ihm aufs Haar gleicht. Zwischendurch gibt es immer wieder Szenen, die tatsächlich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts spielen. Besonders gruselig ist, dass der Protagonist diese Szenen erlebt, als geschähen sie ihm, als wäre er der Akteur. Er ist es aber nicht. Immer wieder „erwacht“ er und fragt sich, was ihm da gerade widerfuhr/ was er schreckliches tat, was das mit ihm zu tun hat, warum es überhaupt geschieht/ ob er es wirklich getan hat.

 

Am Ende lässt Tukur seinen Protagonisten denken: „Das Leben ist ein Abgrund, dachte er, in dem jeder mit dem anderen zusammenhing, ein unendlich fein verzweigtes, unterirdisches Geflecht, das die Erde seit Jahrtausenden durchzog und alles Böse und Gute, alles Tote und Lebendige miteinander verband.“ Im Nachwort erklärt er, dass er sich bei der Beschreibung des Arztes in diesem Roman auf eine reale Person bezog, die tatsächlich im Südfrankreich der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts viele Flüchtlinge nicht nur betrog, sondern auch brutal ermordete.

 

Dieser Roman liest sich nicht immer einfach. Manchmal weiß man einfach nicht, was man davon halten soll. Vielleicht liegt es auch daran, dass man sich so hilflos fühlt, weil alles so aussichtslos erscheint? Die Welt, in der der Roman spielt, ist komplett digitalisiert. Drohnen und Handyüberwachung. Ich habe, unabhängig von diesem Buch schon manchmal gedacht, dass eine Diktatur in der heutigen Zeit mit den Menschen leichtes Spiel hätte. Jeder ist doch jederzeit auffindbar, weil vernetzt. Wer schaltet noch sein Handy aus? Wer postet nicht irgendwo irgendwas? Selbst Nachrichten, Mails, mal ganz abgesehen von Messengerdiensten wie WhatsApp, sind jederzeit einsehbar, wenn man das will und über die entsprechende Technik verfügt… ein gruseliger Gedanke, der manchmal in mir aufsteigt. Glücklicherweise leben wir nicht in einer solchen, das Leben des Einzelnen jederzeit bedrohenden Staatsform. Noch nicht… Manchmal befürchte ich jedoch, wenn ich die Nachrichten verfolge, dass sich Geschichte tatsächlich alle 100 Jahre wiederholt. Dann wünsche ich mit aller Kraft, dass dem nicht so sein möge, dass die Menschen nicht nur die Technik weiterentwickelt haben, sondern auch ihr Bewusstsein für die Katastrophe, die eine undemokratische Gesellschaft bedeutet.

Benjamin Myers „Offene See“


Es ist die Geschichte eines Jungen, der, sechzehnjährig, unmittelbar nach seinen Prüfungen, aufbricht, um das Meer zu sehen. Er schläft in der Natur, in Scheunen, in Ställen und verdient sich sein Essen durch Gelegenheitsarbeiten. Den Weg legt er zu Fuß zurück.

Eines Tages trifft er so auf Dulcie, eine ältere Dame, die in einem Cottage mitten in einem großen, verwilderten Garten lebt. Das Meer ist nah, Robert hat also sein Ziel erreicht. Dennoch will er eigentlich weiterziehen.

Aber irgendetwas hält ihn dort auf dem Hügel mit Blick aufs Meer. Dulcie scheint ihn irgendwie zu mögen, wenn auch auf eine zeitweise etwas harsche Art. So bleibt er noch einen und noch einen Tag und schließlich den ganzen Sommer. 

Dienstag, 25. August 2020

Mercé Rodoreda „Der Garten über dem Meer“


Diesen Roman liehen mir meine Nachbarn aus, die gerade auf dem Weg in ihr südfranzösisches Feriendomizil, nahe der katalanischen Grenze waren.

Es ist eine Geschichte, die an den großen Gatsby erinnert, sicherlich auch, weil sie- ohne dass dies je genau benannt wird- offensichtlich in derselben Zeit spielt.

Erzählt wird die Geschichte vom Gärtner des Gartens über dem Meer. Er erklärt gleich zu Beginn, dass er alt sei und sich nicht mehr an alles genau erinnere. Seine Sprache ist bedächtig und die Lektüre dieses Buches vielleicht auch dadurch sehr entspannend.

Er erzählt über sechs Sommer in jenem Haus im Garten über dem Meer. Die Herrschaften leben dort nur im Sommer. Den Winter verbringen sie in Barcelona.

Freitag, 24. Juli 2020

Stefanie Gregg „Nebelkinder“

Eine Geschichte über Flucht und deren Folgen. 

Eine Mutter flieht mit zwei Töchtern (Anastasia und Helene), ihrer Schwester und deren Sohn aus Breslau, dem heutigen Wrozlaw. Es gelingt ihnen in den letzten Zug aufgenommen zu werden und später werden ihnen sogar Sitzplätze organisiert. Damit dies alles möglich ist, müssen die beiden Mütter den Soldaten, die den Zug begleiten, „zur Verfügung stehen“. Die Kinder bekommen das zwar mit, wissen aber nicht wirklich, was geschieht. 

Es ist Winter und eisig kalt. Es gibt so gut wie nichts zu essen, man kann sich nicht waschen und bekommt nur selten etwas zu trinken. So geht das tagelang. Niemand weiß, ob der Zug es schafft, wie lange sie unterwegs sein werden, ob sie diese Fahrt überleben.

Die zweite Erzählebene spielt in der heutigen Zeit. Lilith, die Tochter von Anastasia steht vor einer Entscheidung, die ihr Leben stark verändern kann. Da sie unentschlossen ist, lädt Anastasia sie zu einer Reise nach Wrozlaw ein… und sie beginnt zu erzählen, was damals geschah. 

Lilith erfährt Dinge, über die noch nie geredet wurde und beginnt langsam zu verstehen, was sie nie begreifen konnte. Der Titel des Buches bezieht sich genau auf dieses Gefühl: dieses Stochern im Nebel. Man spürt, dass da etwas ist, aber selbst auf Fragen erhält man keine Antwort oder nur Erklärungen, die den Nebel nicht lichten, weil sie ausweichend gegeben werden…

 

Diese Geschichte macht in Romanform deutlich, was Sabine Bode in ihren Büchern „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ und „Kriegsenkel“ herausgearbeitet hat: all die Schrecken des Krieges und der Flucht verlieren sich nicht, indem man einfach nicht darüber redet. Im Gegenteil: die verdrängten schrecklichen Erlebnisse verwandeln sich in Ängste und Verhaltensweisen, die dazu beitragen, dass die Schrecken von Generation zu Generation weiterwirken. 

Ich denke, dass dies für alle Geheimnisse gilt, die es in Familien gibt. Jeder Schrecken, der nicht verarbeitet wird, gärt weiter, prägt das Verhalten und wird so ungewollt auf die Kinder und Kindeskinder übertragen. Das Schlimme daran ist, dass die folgenden Generationen sich manche Gefühle oder Verhaltensweisen nicht erklären können, denn sie selbst hatten diese Erlebnisse ja nicht. Wenn nicht, wie Anastasia in diesem Buch, diejenigen, die diese Erlebnisse hatten, sich öffnen und darüber sprechen, werden die Kinder und Kindeskinder immer weiter „im Nebel stochern“.

 

Ich fand es ein wenig schade, dass manche Personen aus der Geschichte später „verschwanden“. So erfährt man nicht, was aus Anastasias Schwester Helene wurde, was aus Wolfi, dem Cousin der beiden und seiner Mutter Selma, die ja auch die Flucht erlebten. Aber vielleicht gibt es irgendwann noch eine Fortsetzung zu diesem Roman?

 

Lena Johannson „Die Malerin des Nordlichts“


Ein Roman über eine starke Frau, Signe Munch Siebke, die heute kaum bekannt ist, da ihre Bilder während der Besatzung Norwegens durch die deutschen Truppen fast vollständig verloren gingen.

Natürlich erfährt man auch etwas über Edvard Munch, den berühmten Onkel Signes. Sie hat eine nahe Beziehung zu ihm, wehrt sich aber stets dagegen, auf die Verwandtschaft mit ihm reduziert zu werden. Sie sucht ihren eigenen Weg in der Malerei und findet ihn auch- so jedenfalls wird es im Buch beschrieben.

Signe heiratet, weil ihr Vater das von ihr erwartet. Diese Ehe ist für sie jedoch wie ein Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nimmt. Sie verspürt den Drang zu malen, was ihr Mann aber nicht goutiert. Also entschließt sie sich, die Scheidung einzureichen, was in der damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich ist. Signe steht danach für sich, studiert Kunst und bestreitet ihren Unterhalt durch Schreibarbeiten sowie das Engagement für den Verein junger Künstler. Durch ein Stipendium kann sie Erfahrungen in Kopenhagen sammeln.

Mit ihrem zweiten Mann Einar Siebke engagiert sie sich im Widerstand. 

Der Leser erfährt viel über das Malen allgemein, über Farben und Atmosphäre, Technik und Licht, aber auch über die Künstler- Bohème in Kristiania, das erst ab 1924 wieder Oslo genannt wird sowie über den Widerstand gegen die deutsche Besatzung.

Aus meiner Sicht ein lesenswertes Buch.

Armando Lucas Correa „Die verlorene Tochter der Sternbergs“


 

Familie Sternberg lebt in Berlin. Der Vater ist Kardiologe und die Mutter betreibt den Buchladen, den sie von ihrem Vater übernommen hat, den „Büchergarten“ in Berlin Charlottenburg. Die beiden lieben sich und ihre beiden Töchter Viera und Lina innig. Aber sie sind Juden und das ist mit Machtantritt der Nazis kein gutes Vorzeichen für ein glückliches Leben.

Armando Lucas Correa beschreibt in diesem Buch die Leben der Mitglieder dieser Familie. Der Vater stirbt schnell, nachdem er von den Nazis abgeholt wird. Es gelingt ihm jedoch, zuvor noch die Flucht seiner Töchter vorzubereiten. Beide sollen am 13. Mai 1939 mit dem Passagierschiff „St. Louis“ nach Kuba zum Bruder seiner Frau reisen. Wenn er selbst und seine Frau schon nicht gerettet werden konnten, so sollten es wenigstens die Kinder schaffen. Der Vater eines ehemaligen Patienten, ein Nazi zwar, aber doch dankbar gegenüber Dr. Sternberg, der das schwache Herz seines Sohnes gestärkt hatte, war aktiv geworden und hatte alles für die Flucht der Töchter der Sternbergs organisiert.

Amanda, die Mutter von Viera und Lina, kann keine Dankbarkeit empfinden. Wie auch? Ihr Leben ist zerstört, der Buchladen leer, die Bücher verbrannt, ihr geliebter Mann tot und nun soll sie sich auch noch von ihren Töchtern trennen. Sie entschließt sich, am Pier erst, nur die ältere der beiden auf das Schiff und nach Kuba zu ihrem Bruder zu schicken. Mit der jüngeren flieht sie weiter nach Frankreich in ein Dorf in der Nähe von Limoges zu der Frau eines Freundes ihres Vaters, Claire.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“ und „Die langen Abende“

Bei einem meiner Streifzüge durch die Buchhandlung fand ich den Roman „Die langen Abende“ von Elizabeth Strout. Auf dem Buchrücken stand, dass es in diesem Buch ein Wiedersehen mit Olive Kitteridge gäbe. Das sagte mir nichts, obwohl ich doch schon einige Bücher der Autorin gelesen hatte. Also beschloss ich, zunächst das Buch „Mit Blick aufs Meer“ zu lesen, in dem jene Olive die Heldin war und für das Elizabeth Strout 2009 den Pulitzerpreis erhielt.

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass ein Buch gut ist, nur weil es einen Preis erhielt. Aber da mir die Schreibweise der Autorin gefiel und ich eine Reihe gern von vorn beginne, las ich also zuerst „Mit Blick aufs Meer“ und dann die Fortsetzung „Die langen Abende“.

Elizabeth Strout beschreibt das Leben in einem kleinen fiktiven Ort an der Küste von Maine. Sie beobachtet genau und wertet nie. Das führt dazu, dass sich der Leser so fühlt, als wäre er selbst dort und würde sehen, was vor sich geht. Irgendwann stellt man fest: Das ist, was man auch in seiner eigenen unmittelbaren Umgebung beobachten kann. Angeregt durch die Lektüre, schaut man genauer hin, sieht plötzlich bei sich selbst oder den Nachbarn Dinge, die sonst eher vorbeirauschen, nicht auffallen oder verdrängt werden.

Die einzelnen Kapitel (in beiden Büchern) scheinen manchmal ohne Zusammenhang zu sein, da immer wieder von anderen „Häusern“ (im Sinne von Familien/ Schicksalen) erzählt wird. Häufig dachte ich an den Spruch einer meiner Großmütter: „Unter jedem Dach ein Ach!“ Nein, lustig ist das selten. Auch nicht so, dass man es erstrebenswert fände. Und doch ist es eben das Leben mit allen seinen Höhen und Tiefen, die es für jeden Menschen hat. 

Die Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen Leben stellt immer wieder Olive Kitteridge dar. Sie taucht mal intensiver, mal nur kurz in jeder der Geschichten auf. Auf diese Weise wird im Grunde das Leben der Olive Kitteridge erzählt. Man begleitet sie von der Zeit als junge Mutter über die mittleren Jahre (im ersten Buch) bis ins hohe Alter (im zweiten Buch).

Freitag, 17. Juli 2020

Emily Gunnis „Das Haus der Verlassenen“

Dieses Buch habe ich innerhalb von zwei Tagen durchgelesen! Gut, dass ich Urlaub habe und mir darum diese Zeit nehmen konnte ;)

Es geht um Mutter- Kind- Heime in England in den 50er/ 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Inzwischen weiß man viel über die „Magdalenen- Heime“ in Irland, über die am Ende der 1990er/ Anfang der 2000er Jahre immer mehr veröffentlicht wurde. Dass es solche Heime auch in anderen Ländern so oder ähnlich gab, ist inzwischen ebenfalls bekannt. 

Emily Gunnis schreibt in ihrem Nachwort, dass das im Roman benannte Heim eine Fiktion ist, dass es aber auch in England solche Heime gab und sie sich mit ihren Beschreibungen auf die Zustände in verschiedenen Einrichtungen auf dem Gebiet Großbritanniens bezieht.

Der Roman beginnt mit dem Brief einer jungen Frau an ein kleines Mädchen, in dem sie diesem erklärt, wie es aus dem schrecklichen Heim fliehen kann, während die junge Frau durch ihren Freitod für Ablenkung sorgen wird.

Beide, die junge Frau und das kleine Mädchen, sind gefangen in diesem, von Nonnen geführten, Heim. Das Mädchen wurde dort geboren und irgendwann von den Adoptiveltern, an die man es vermittelt hatte, zurückgebracht. Es fristet sein Dasein unter unmenschlichen Bedingungen auf dem Dachboden des Hauses. Die junge Frau brachte ihr uneheliches Kind in diesem Heim zur Welt und wurde, wie alle „gefallenen“ Mädchen, die in diese Einrichtung kommen, gezwungen, es zur Adoption freizugeben. Beide müssen von morgens bis abends schwer in der Wäscherei schuften, bekommen nur wenig zu essen, sind niemals ohne Aufsicht, dürfen nie aus dem Haus, nicht einmal in den Garten- kurz: es sind Zustände, von denen man denkt, so etwas hätte es vielleicht im Mittelalter gegeben. Wie inzwischen bekannt ist, wurden diese Heime aber bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts- für die Verantwortlichen sehr ertragreich- betrieben.

Donnerstag, 16. Juli 2020

Éric Vuillard „Die Tagesordnung“


Ein schmales Büchlein mit gewichtigem Inhalt. Ausgehend vom Treffen vierundzwanzig hochrangiger Vertreter der Industrie mit Adolf Hitler am 20. Februar 1933 skizziert Vuillard die Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Dabei betrachtet er vor allem das, was hinter den Kulissen geschah, das, was nicht unbedingt zum allgemeinen Wissen gehört und vergleicht am Ende die Bereitschaft der Industriellen, den Wahlkampf von Adolf Hitler zu finanzieren mit der, lange nach dem Krieg die vergleichsweise wenigen noch lebenden Zwangsarbeiter zu entschädigen, die unter unmenschlichen Bedingungen maßgeblich zum noch heute existierenden Reichtum der Firmen beitrugen.

Dieses Buch liest sich nicht mal eben so weg. Es setzt einiges Wissen über diese düstere Zeit voraus und ist in einer Sprache geschrieben, die Konzentration erfordert. Überliest man einen Satz, will man querlesen, geht der Sinn des Ganzen verloren und man blättert zurück, liest noch einmal.

Ein Zitat als Beispiel: „Was an diesem Krieg verblüfft, ist der unerhörter Erfolg der Frechheit, der uns eines lehren sollte: Die Welt gehorcht dem Bluff. Selbst die seriöseste, steifste Welt, selbst die alte Ordnung, die sich niemals dem Anspruch der Gerechtigkeit beugt oder vor dem aufständischen Volk einknickt: Sie tut es vor dem Bluff.“

Ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich für Geschichte interessieren und Freude an tiefgründiger Literatur, gedanklichen Winkelzügen sowie stellenweise sarkastischem Tonfall haben.

 

 

Montag, 13. April 2020

Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“


So lange habe ich nicht mehr über eines der Bücher geschrieben, die ich las. Nun endlich nehme ich mir wieder die Zeit dafür.
Zeit, darum geht es unter anderem in diesem Roman von Pascal Mercier. Bereits seinen Roman „Nachtzug nach Lissabon“ las ich mit Begeisterung und nun dieses Buch.
Anfangs hatte ich Schwierigkeiten hineinzufinden in den Text. Es geht um einen Mann, den Übersetzer Simon Leyland, dem ein Arzt eine schreckliche Diagnose eröffnet. Noch einige Wochen, vielleicht Monate habe er zu leben. Dann, elf Wochen später: es war ein Irrtum! Er ist gesund. Wie lange ihm nun noch bleibt, weiß er nicht. Nur, dass es vermutlich länger sein wird als eben noch angenommen.
Anfangs fand ich es mühselig, seinen Blick nach innen und in die Vergangenheit mitzuverfolgen. Dann jedoch veränderte sich etwas und ich genoss zunehmend die philosophischen Betrachtungen und Gespräche, die Leyland sowohl im realen Leben, als auch in seinen Briefen führt. Diese Briefe an seine, schon vor langer Zeit verstorbene, Frau erzählen von seinem bisherigen Leben, geben Einblick in das, was ihn jetzt ausmacht und was ihn in der Vergangenheit beschäftigte. 
Zeit ist ein großes Thema in diesem Buch. Wie gehen wir um mit unserer Zeit solange wir meinen, noch viel davon zu haben? Wie oft lassen wir Zeit verstreichen oder verschwenden unsere Zeit? Die Passagen, in denen sich Leyland mit anderen oder mit sich selbst mit diesem Thema auseinandersetzt, haben mich sehr nachdenklich werden lassen und mich angeregt, mir auch meine Zeit anzuschauen. Wie genieße ich meine Zeit? Wie oft vertrödele ich sie einfach nur? Was es bedeutet, seine Zeit zu vertrödeln, zu vergeuden etc., darüber philosophiert auch Leyland zwischenzeitlich mit seiner Tochter.