Sonntag, 4. Oktober 2015

Patrick Modiano „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“

Ein zurückgezogen lebender Schriftsteller, scheinbar in einer Sinnkrise. „In Zeiten von Katastrophen oder geistiger Not gab es keinen anderen Ausweg, man musste sich einen Fixpunkt suchen, um das Gleichgewicht zu halten und nicht über Bord zu gehen. Der Blick bleibt an einem Grashalm hängen, an einem Baum, den Blütenblättern einer Blume, als würde man sich an eine Rettungsboje klammern.“ So erklärt der Protagonist Daragane seine Beziehung zu der Weißbuche vor seinem Fenster. Welche Katastrophe ihn ereilt hat, erfährt man nicht. Man kann es nur erahnen.
Daragane wird von einem zwielichtigen Typen mit Geschehnissen konfrontiert, deren Teil er offensichtlich als Kind vor vierzig Jahren war. Auch über diese Geschehnisse erfährt man nichts genaues. Daragane scheint sich nicht erinnern zu können oder zu wollen.

Es bleibt alles irgendwie im Nebel, in der Schwebe. So viele Fragen bleiben offen. Das Gefühl, das mich die ganze Zeit beim Lesen begleitete, war jenes, das man manchmal morgens beim Aufwachen hat, wenn man sich an einen Traum erinnern möchte, der sich aber beharrlich aus dem Bewusstsein zurückzieht. Man kann ihn einfach nicht greifen, die Fetzen und Fetzchen, die bleiben, nicht zu einem Ganzen, gar zu einer Geschichte zusammensetzen. Das könnte durchaus unbefriedigend sein.

Und doch war ich am Ende nicht frustriert. Die Art, in der Modiano schreibt, ist wie eine sanfte Melodie, die selbst dramatische Momente in weiche Töne kleidet. Man schlendert in Gedanken durch Paris oder steht neben Daragane am Fenster und richtet den Blick wie er auf die Weißbuche. Man lauscht seinen Gedanken und bruchstückhaften Erinnerungen an seine Kindheit. Die zwischenzeitlich aufkommenden Fragen verflüchtigen sich wie Regentropfen, die auf eine Fensterscheibe fallen. Man hat das Gefühl, man kann diese Fragen nicht stellen, ohne ihn zu verletzen, zu irritieren. Und das will man schließlich nicht. Dazu ist dieser Spaziergang durch Paris in einem warmen Spätsommer zu harmonisch…
Ich dachte am Ende: manchmal ist es sicher auch gut, sich nicht zu erinnern. Manchmal wäre es nicht zu ertragen. So wird es wohl für Daragane sein…

Ein schmales Bändchen ist dieses Buch von Patrick Modiano. Gerade 160 Seiten. Er erhielt dafür den Nobelpreis für Literatur 2015.






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Ich freue mich immer über Nachrichten/ Kommentare und daraus entstehenden Austausch :)